Prinzipien des Improvisierens in der nordindischen Kunstmusik

Empirische Untersuchungen der Unterrichts- und Aufführungspraxis

Markus Schmidt

(Intercultural Music Studies Vol.: 22)


Nordindische Kunstmusik gilt als Paradebeispiel improvisierter Musik. Bis zu fünfundneunzig Prozent einer Aufführung seien improvisiert, so ist oftmals von indischen Musikern zu hören. Umso erstaunlicher mutet es an, dass Improvisation in der viele Jahre dauernden klassischen indischen Musikausbildung weder theoretisch noch praktisch eine Rolle spielt. Musikunterricht in Indien folgt dem Prinzip strikter Imitation: der Schüler versucht das, was ihm der Lehrer vorsingt oder -spielt, so exakt wie möglich zu kopieren. Anders ausgedrückt üben indische Musiker über Jahre hinweg vorkomponiertes Material und treten schließlich extensiv improvisierend vor ein Publikum.
Um diesen offenkundigen Widerspruch aufzulösen, wendet sich der Autor zunächst den vielfältigen Bedeutungsdimensionen des Improvisationsbegriffs zu und untersucht dessen Anwendbarkeit im Kontext der nordindischen Kunstmusik.
Die Tatsache, dass zwischen Unterrichts- und Aufführungspraxis nichts liegt, was für die Ausbildung von Improvisationskompetenz verantwortlich sein könnte, führt ihn zu seiner Leithypothese, der zufolge das Improvisieren in der nordindischen Kunstmusik durch Prinzipien geleitet wird, die durch den Unterrichtsmodus intuitiv angeeignet und in der Aufführungspraxis ebenso intuitiv angewandt werden. Durch die vergleichende Untersuchung von Unterrichts- und Aufführungspraxis gelingt es dem Autor, die zugrundeliegenden Prinzipien des Improvisierens zu isolieren und somit implizites Improvisationswissen zu explizieren. Während sich die Unterrichtsanalyse auf Beispiele aus der wissenschaftlichen Literatur sowie eigene Feldforschungen stützt, basiert die Aufführungsnalyse auf der Transkription einer einstündigen Performance des sitār-Maestros Pandit Subroto Roy Chowdhury und des tablā-Spielers Sanjib Pal.

Eine CD mit 6 Audio-Beispielen, 1 Film sowie die Transkription der Performance von Rāga Yaman (pdf – 121 S.) ergänzen diesen Band.


Inhalt

I. TEXTTEIL

1. Improvisation – Begriff und Bedeutung
1.1 Autoren
1.1.1 Ernst Ferand
1.1.2 Bruno Nettl
1.1.3 Derek Bailey
1.2 Definitionen
1.3 Etymologische Rekonstruktionen
1.4 Fazit
2. Überblick zur nordindischen Kunstmusik
2.1 Kurze Kulturgeschichte der indischen Kunstmusik
2.2 Zentrale Konzepte: rāga und tāla
2.2.1 rāga – Begriff und Konzept
2.2.1.1 Tonsystem
2.2.1.2 Beispiel rāga Yaman
2.2.2 tāla – Begriff und Konzept
2.2.2.1 Der tihāī
2.3 Konventionen der nordindischen Kunstmusik
2.3.1 Musikalische Stile und Formen
2.3.2 Ensembles
3. Improvisation in der Musikvermittlung
3.1 Das traditionelle Unterrichtssystem
3.1.1 gharānā
3.1.2 guru-śisya-paramparā
3.1.3 tālīm
3.1.4 Das traditionelle Unterrichtssystem im 21. Jahrhundert
3.2 Musikvermittlung in der zeitgenössischen Unterrichtspraxis
3.2.1 Beispiele aus der wissenschaftlichen Literatur
3.2.1.1 Musikvermittlung im Ghulam Ali Khān sarod-gharānā
3.2.1.2 Musikvermittlung im Imdad Khān sitār- und surbāhār-gharānā
3.2.1.3 Musikvermittlung im Dāgar bānī
3.2.1.4 Fazit
3.2.2 Teilnehmende Beobachtung in der Musikethnologie
3.2.2.1 Persönlicher Bezug zur nordindischen Kunstmusik
3.2.3 Musikvermittlung in teilnehmender Beobachtung
3.2.3.1 sitār-Unterricht bei Lalit Gomes
3.2.3.2 rudrā vīnā-Unterricht bei Ashish Sankrityayan
3.2.3.3 sitār-Unterricht bei Subroto Roy Chowdhury
3.2.3.4 Vergleichende Untersuchung des ālāp-Unterrichts
3.3 Fazit
4. Improvisation in der Aufführungspraxis
4.1 Improvisation in der Literatur zur nordindischen Kunstmusik
4.2 Aufführungsanalyse
4.2.1 Methodik
4.2.2 Aufnahme
4.2.3 Aufführungsanalyse rāga Yaman
4.2.3.1 Aufbau
4.2.3.2 Groß-ālāp
4.2.3.2.1 ālāp
4.2.3.2.2 jod
4.2.3.2.3 ālāp-jhālā
4.2.3.3 vilambit gat
4.2.3.3.1 Rhythmische Struktur von Masidkhāni-gat
4.2.3.3.2 Melodische Analyse von Masidkhāni-gat
4.2.3.3.3 Chronologische Analyse vilambit gat
4.2.3.4 drut gat
4.2.3.4.1 drut gat-Strukturen
4.2.3.4.2 Chronologische Analyse drut gat
4.2.3.4.3 gat-jhālā
4.3 Interpretation
4.3.1 Der rāga als Leitprinzip des Improvisierens
4.3.1.1 rāga-Skala
4.3.1.2 Tonhierarchien
4.3.1.2.1 Tonale Zentren
4.3.1.2.2 Stärke, Länge und Behandlung bestimmter Töne
4.3.1.2.3 Fazit
4.3.1.3 Intonations- und Ornamentierungsweisen
4.3.1.4 Charakteristische Phrasen (Melodische Bewegungen)
4.3.1.5 rāga-intrinsische Balance
4.3.1.6 Fazit
4.3.2 Rhythmus und Metrum als Prinzipien des Improvisierens
4.3.2.1 Tempo
4.3.2.2 Rhythmische Gestaltung von Groß-ālāp
4.3.2.3 Rhythmische Gestaltung metrisierter Strukturen
4.3.2.3.1 vilambit gat
4.3.2.3.2 drut gat<7i>
4.3.2.4 Fazit
4.3.3 Gestaltprinzip
4.3.4 Komposition als Prinzip improvisatorische Gestaltung
4.3.5 Ästhetische Prinzipien
4.3.5.1 Prinzip der variierenden Wiederholung
4.3.5.2 Prinzip der Kontrastierung
4.3.5.3 Prinzip des passenden Übergangs
4.3.5.4 Prinzip der Erwartungserzeugung
4.3.5.5 Fazit
5. Konklusion

II. TRANSKRIPTIONSTEIL





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