Krankheit als semantisches Netzwerk

Ein Modell zur Analyse der Kulturabhängigkeit von Krankheit

Hg./Ed.: Lux, Thomas


In diesem Buch wird die alte Frage "Was ist Krankheit?" neu gestellt. Die Antwort aus einer Perspektive von Ethnomedizin und medical anthropology lautet: Krankheit ist ein semantisches Netzwerk. Mit diesem theoretischen Modell wird Krankheit als ein Netzwerk von Bedeutungen beschrieben, als eine spezifische, kulturspezifische Kombination von Erfahrungen und Symbolen, von Innen und Außen, von Körper und umgebender Welt. Entstanden ist diese Interpretation von Krankheit aus dem Versuch heraus, Krankheiten in fremden Kulturen und ihnen zugehörige Therapieformen zu verstehen. Sie beruht auf einer sozialwissenschaftlichen Vorgehensweise. Das semantische Netzwerk von Krankheit wird von dem/den jeweils Beteiligten bestimmt. So sind seine Inhalte nicht auf einzelne, von den unterschiedlichen Wissenschaften beschriebene Bereiche beschränkt, speziell nicht nur auf den Bereich der technisch-biologischen Medizin. Vielmehr repräsentiert das semantische Netzwerk die lebensweltliche Wirklichkeit des/der Menschen. Damit ist es radikal subjektiv. Indem das Wissen über die Krankheit jedoch in einer kulturspezifischen Traditionslinie aufgenommen und dann immer weiter entwickelt wird, sedimentiert es und wird so zu einer objektiven Wirklichkeit mit einer eigenen Geschichte.

Diese Studie wurde im Seminar "Historische und aktuelle Probleme der Ethnomedizin - Krankheit als semantisches Netzwerk" in Frankfurt am Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin und am Institut für Historische Ethnologie entwickelt. Sie soll verstreut vorliegende Erkenntnisse der Ethnomedizin und medical anthropology für die Diskussion in Deutschland verfügbar machen. Die Kapitel stellen jeweils einen Artikel US-amerikanischer Medizinanthropologen vor. Sie zeichnen die darin vorgestellten Fallgeschichten nach und interpretieren Krankheit als semantisches Netzwerk. Zielgruppe für diese Publikation sind Mediziner, Ethnologen, Sozialwissenschaftler und alle anderen, die sich mit dem Verhältnis von Kultur, Gesundheit und Krankheit beschäftigen.


Inhalt:

Vorwort

Lexikon im Text vorkomender Fachausdrücke
Literaturverzeichnis
Index


Thesen zum Konzept des semantischen Netzwerkes

A. Zur Entwicklung des Begriffs semantisches Netzwerk
A1. Bedeutung kondensiert reale Beziehungen
Symbole können gesellschaftliche Phänomene, Ideen und Erfahrungsmuster zu hoher Komplexität und Wichtigkeit verdichten. Sie konzentrieren Bedeutung. Das Modell der semantischen Analyse vereinigt Hauptsymbole mit diversen heterogenen Symbolen zu einem vielfältigen Netzwerk und kann so sehr unterschiedliche Phänomene, Ideen und sogar ganze Erfahrungsmuster miteinander in Beziehung setzen. Daher ermöglicht die Untersuchung der Netzwerke von Symbolen und Erfahrungen einen Einblick in die Struktur des kulturellen Codes.
A2. Krankheiten sind wie Rituale zu analysieren
Krankheiten sind wie Rituale schrittweise in ihrem unmittelbaren Bedeutungsgehalt für die Mitglieder einer Kultur zu analysieren. Wesenliche Elemente sind dabei die Formen von Erfahrung, die Situationen, die Gefühle, die Symptome und die Worte. Das Verhältnis zwischen medizinischer Sprache und Krankheit muß die Beziehung zwischen den Worten selbst und die Beziehung zwischen Worten, Gedanken und den Designata reflektieren. Die entstehenden Assoziationsmuster sind die semantischen Netzwerke, die typische Streßmuster in Individuum und Gesellschaft offenbaren: Individuelle und soziale Wirklichkeit werden gleichzeitig analysierbar. Krankheit ist damit in allen möglichen, besonders aber in ihren sozialen Dimensionen beschreibbar.
A3. Krankheit ist eine kollektive Repräsentation
Krankheit ist ein Komplex, der eine Vielzahl von Symbolen, Situationen, Erfahrungen, Motiven, Gefühlen und Belastungen, das Innen und das Außen zu einem bekannten, geordneten Ganzen integriert, das für die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft mit einer bestimmten Gesetzmäßigkeit auftritt. Krankheit ist ein kulturspezifisches Objekt, das eine spezifische Entwicklung und Geschichte hat. Dieses Objekt ist überindividuell, es stellt eine Art Schablone dar, die soziale Konstellation, Symbole und angemessene Reaktionsweisen verbindet. Das Kennenlernen einer Krankheit ist ein Teil der allgemeinen Sozialisation, in das ein Individuum ebenso wie auch in materielle Strukturen hineinwächst. Dann steht die Krankheit zur Verfügung, um in der Situation des Krankseins dem Erleben Sinn und Bedeutung zu geben.

B. Bedeutungsnetzwerke in einer pluralistischen Gesellschaft
B1. Pluralismus schafft Identitätsbewußtsein und Abgrenzung
Medizinischer Pluralismus entspringt gesellschaftlichem Pluralismus. Als Träger kultureller und ethnischer Identit<äten fördert der medizinische Pluralismus die Integration in komplexen Gesellschaften. Gleichzeitig sorgt er aber auch für gegenseitige Abgrenzung. Das Erleben des Fremden führt zu einer interethnischen Kommunikation, dessen institutionalisierte Vertreter - neben anderen - die Medizinsysteme sind. Medizintraditionen in einer pluralistischen Gesellschaft besitzen jeweils eigenständige, voneinander unabhängige Bedeutungsnetzwerke. Kranksein wird demnach nicht nur in ein, sondern in unterschiedliche Netze von Bedeutung und sozialer Interaktion eingebettet.
B2. Kranksein ist Interpretationsprozeß
Unterschiedliche Bedeutungszuweisungen und Erklärungsmodelle von Kranksein führen zur Reflexion über die Krankheitsursachen und Heilmöglichkeiten durch den Erkrankten. Sie konfrontieren ihn immer wieder mit einer Modifizierung der Problemstellung. Der Vergleich und die Diagnoseselektion durch den Patienten ist Bestandteil des Heilungsprozesses. Stete Wiederholungen und Interpretationen des Leidens werden zu einem Netzwerk verknüpft und ermöglichen eine individuelle Einbindung des Krankseins in die kulturelle Wirklichkeit.
B3. Heilung ist Transformation persönlichen Leids in ein kulturelles Thema
Das persönliche Leiden wird innerhalb eines kulturellen Rahmens reinterpretiert und gewinnt dadurch überindividuelle Bedeutung. Heiler und Klient bedienen sich an einem Netzwerk von Bedeutungen, um das Kranksein in einen Zusammenhang von kultureller Wirklichkeit und aktueller Lebenssituation zu bringen. Die Funktion von Heilung liegt in der Anbindung des persönlichen Leidens an einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Der interpretative Prozeß zwingt zur Distanzierung der persönlichen Leidenserfahrung hin zu einer allgemein definierbaren und damit heilbaren Form der Erkrankung.

C. Semantische Netzwerke bei Laien und Spezialisten
C1. Das medizinische Wissen liegt bei Laien und Experten in unterschiedlicher Form vor
In jedem Medizinsystem existiert ein zu diesem Medizinsystem gehörendes Wissen, das in unterschiedliche Bereiche verteilt vorliegt. Laiensysteme sind mit Alltags-Realität und Gemeinwissen verknüpft, Expertensysteme mit lehrgebäudeartigen Wissenssystemen. So wird das Wissen von Laien häufig als konkret und nicht systematisch augefaßt. Die ausgearbeiteten Systeme der Experten hingegen gelten als mächtige Beschreibungen der Wirklichkeit. Konsequenterweise definiert dann das Expertenwissen, was als 'richtig' angesehen wird. Dem Laienwissen wird nur eine geringe Bedeutung beigemessen.
C2. Semantische Netzwerke bilden sozial und historisch differenzierte Wissensbestände ab
Semantische Netzwerke bilden Kranksein ab, indem sie die individuellen Wissenbestände ihrer jeweiligen Träger in geordneter Form darstellen. Das Wissen betriff zwei Bereiche: Die Verbindung der Erfahrung des Krankseins mit Bedeutung und die Verbindung mit Aktivitäten zur Heilungssuche. Beide Aufgaben führen zu komplexen und spezifischen Veränderungen des Wissens im Verlauf einer Erkrankung. Semantischen Netzwerke unterscheiden sich nicht nur von Person zu Person, sondern können sich auch im zeitlichen Ablauf eines Krankseins einer Person ändern.
C3. Semantische Netzwerke können Kranksein ganzheitlich abbilden
Semantische Netzwerke können Kranksein abbilden, weil sie in der Lage sind, die Erfahrung aller Ebenen von Kranksein miteinander in Verbindung zu setzen: Den Körper und die Körperfunktionen, Affekte, Wissen und Reaktionsweisen, sowie die gesellschaftliche und natürliche Umgebung. Erfahrung wird übersetzt in Sprache und andere Symbolsysteme, die auch eine zeitliche Strukturierung des Krankseins ermöglichen. Semantische Netzwerke erlauben je nach Situation Auswahl und Kombination ihrer unterschiedlichen Elemente.
C4. Semantische Netzwerke sind analysierbar
Semantische Netzwerke von Kranksein lassen sich mit einfachen sozialwissenschaftlichen Methoden erheben. Sie sind assoziativ und variabel aufgebaut. Sie lassen sich analysieren, schematisieren und vergleichen. Semantische Netzwerke können auch zur Beschreibung von Krankheit Verwendung finden, indem die Wissensbestände einer Vielzahl von Personen integriert werden. In diesem Sinne beschreiben semantische Netzwerke dann eine kulturell klar verortete Krankheit, different von anderen Beschreibungen von Krankheiten gleichen Namens.

D. Semantische Netzwerke als Abbildung geschichtlicher Zusammenhänge
D1. Die semiotische Analyse berücksichtigt über die Sprache hinaus alle menschlichen Ausdrucksformen
Ein semiotischer Zugang zu Medizinsystemen in verschiedenen Kulturen beinhaltet die Analyse der Semantik ohne die Engführung auf die sprachliche Ebene. Der ganze Bereich von bedeutungshaltigen Symbolen über Gesten, Metaphern, Klänge, Farben, Rituale hin zu ganzen Erzählungen wird zu Material, das einer Dechiffrierung zugänglich ist und das aus der Innenperspektive der fremden Kultur verstanden werden will.
D2. Semantische Netzwerke sind als Analyseinstrumente vielseitig verwendbar Semantische Netzwerke sind als Analyseinstrument im Feld sehr 'dehnbar'. Sie können als tabellenhafte vorläufige Skizze begonnen werden, um sich der fremden Wirklichkeit anzunähern, und können verfeinert werden, bis daß sie gegebenenfalls zu einer Repräsentation der fremden Wirklichkeit selbst werden. Ob das letztere prinzipiell möglich und/oder wünschbar ist, wird kontrovers diskutiert.
D3. Mittels semantischer Netzwerke können historische Abläufe rekonstruiert werden
Semantische Netzwerke können Antworten zu geschichtlichen Fragestellungen bereithalten, sofern Ähnlichkeit zwischen Konzepten als ein Argument für Import von Denktradition gelten kann. Die Begrenzung der semantischen Netzwerke als Untersuchungsinstrument wird jedoch auch an dem Punkt deutlich, wo es darum geht, über Ähnlichkeitsrelationen hinaus Kausalzusammenhänge - in diesem Fall Fragen der Herkunft und Entwicklung - zu etablieren.


home - Zur Startseite des VWB - Verlag Wissenschaft und Bildung


Hiermit bestelle ich / I like to order:
Stück/copy "Krankheit als semantisches Netzwerk"

Meine EMail:

Meine Adresse / My address:

Zahlungsart/Method of payment:

per Kreditcarte (Visa Card only)

Rechnung (im Ausland Vorausrechnung)/Payment in Advance

BITTE SENDEN SIE UNS NACHFOLGENDE DATEN AUS SICHERHEITSGRÜNDEN NUR PER POST ODER FAX:
PLEASE SEND THE FOLLOWING ITEMS ONLY BY POST OR FAX:
Fax No: +49-[0]30-251 11 36
Kreditkartennummer/Card Number
Gültig bis/Valid until: - Kreditkartenprüfnummer/Card Verification Code/Value:

Einzugsermächtigung (nur Inland)
Kontonummer Bankleitzahl
Name des Kontoinhabers

Datum + Unterschrift / Date + Signature:


Was Sie uns sonst noch sagen wollten: