Neben traditionell kausalen Erklärungen herrschen in der Biologie solche Erklärungen vor, die auf die Funktion und/oder auf den historischen Werdegang einer Struktur oder eines Prozesses verweisen. Solche Erklärungen scheinen mehr Gemeinsamkeiten mit Erklärungen zu haben, wie sie in den Geisteswissenschaften üblich sind, als mit den typischerweise kausalen Erklärungen in der Physik. Eine der Hauptaufgaben einer Wissenschaftstheorie der Biologie ist es, den Status von solchen historischen und insbesondere funktionalen Erklärungen näher zu bestimmen: Lassen sich funktionale und historische Erklärungen als Spezialfall kausaler Erklärungen verstehen oder handelt es sich um alternative Erklärungsformen? Wenn letzteres, inwiefern stehen sie dann im Widerspruch zu kausalen Erklärungen oder sind die verschiedenen Erklärungsformen kompatibel? Eine solche Analyse funktionaler und historischer Erklärungen in der Biologie verspricht nicht nur ein tieferes Verständnis der Wissenschaft Biologie, sondern wird auch neues Licht auf geisteswissenschaftliche Erklärungen werfen.
Zwischen der angelsächsischen und der europäischen Diskussion um Erklärungsbegriffe bestehen aber auch erhebliche Unterschiede: So bezeichnen die meisten Beiträger aus dem angelsächsischen Bereich sich selbst explizit als Naturalisten, während im europäischen, stärker durch die Geisteswissenschaften geprägten Diskussionsfeld die Frage vorherrscht, wie wir im Rahmen bestimmter, Zwecke verfolgender Forschungshandlungen zur Einführung eines Funktionsbegriffes kommen, Funktionen also nicht einfach in der Natur "entdecken", sondern Teilen von Gegenständen Funktionen zuschreiben.
Diesen beiden Fragestellungen entsprechend, einmal überhaupt Grundlagentexte zum Problem funktionaler Erklärungen aus dem angelsächsischen Bereich dem deutschsprachigen Leser vorzustellen, zum anderen aber auch die unterschiedlichen Kulturen wissenschaftstheoretischen Argumentierens vorzustellen und zueinander in Beziehung zu setzen, erfolgte die Auswahl der Beiträge für diesen Band. Es handelt sich bei ihnen zum Teil um Original-Veröffentlichungen (Gutmann, Neander, Schlosser); zum anderen um wichtige, die Diskussion prägende Arbeiten aus dem angelsächsischen Bereich (Griffith, Griffith & Gray, Kitcher, Schaffner, Sober, Wagner).
Inhalt:
Gerhard Schlosser & Michael Weingarten: Einleitung
I. Menschliche Zwecke und Funktion
Mathias Gutmann: Funktion und Modell. Zum methodologischen Status der Rede über
Funktion und ihre Bedeutung für evolutionäre Rekonstruktionen
Kenneth F. Schaffner: Funktionsanalyse und teleologische Erklärung
II. Funktionale Erklärung in der Biologie
Karen Neander: Warum Geschichte zählt: Vier Theorien über Funktionen
Paul E. Griffiths: Funktionale Analyse und eigentliche Funktionen
Philip Kitcher: Funktion und Design
Gerhard Schlosser: Selbst-re-produktion und Funktionalität - Teleologische
Erklärung aus systemtheoretischer Sicht
III. Evolutionäre Erklärung in der Biologie
Elliott Sober: Evolution und Optimalität: Federn, Bowling-Kugeln und
die These der Anpassung
Günter Wagner: Die biologische Rolle der Homologa als Bausteine
der Anpassung - eine Hypothese
Paul E. Griffiths & Russel D. Gray: Entwicklungssysteme und evolutionäre
Erklärungen